Frederick und das Abitur


Einige von euch werden sich vielleicht an die Geschichte von Frederick, der Maus, erinnern:


Im Herbst beginnen alle Mäuse, Vorräte für den Winter zu sammeln – alle, außer Frederick. Während seine Freunde den ganzen Tag damit beschäftigt sind, Nüsse, Eicheln und was sie sonst noch so finden zu sammeln, liegt Frederick zwischen lauter Blumen auf einer Wiese, kaut auf einem Grashalm und lässt sich von der Sonne bescheinen.

Obwohl ihn die anderen Mäuse dazu auffordern, auch nach Vorräten zu suchen, bleibt er müßiggängerisch im Gras liegen. Daraufhin erklären ihm die anderen, wie verantwortungslos er doch sei, und dass er verhungern werde, wenn er nicht nach Nahrung für die Überwinterung suche. Doch alle Sorgen ziehen an Frederick vorbei – im Gegenteil: Er macht es sich noch gemütlicher und scheint mit seinem ganzen Körper die Sonnenstrahlen aufzusaugen.

Doch schließlich bricht der Winter herein und die Mäuse sind zusammen in einer kleinen Höhle, wo sie ihre Vorräte gelagert haben. Auch wenn es einigen zuwiderläuft, teilen sie dennoch ihr mühsam gesammeltes Essen mit Frederick. Wie oft muss er sich während dieser Zeit von anderen sagen lass, dass sie ihm dies prophezeit hätten und dass er besser auf sie hätte hören sollen?

Ganz unerwartet ist der Winter aber viel kälter und härter, als die Mäuse angenommen haben, und viele verlieren die Hoffnung, dass sie ihn überleben werden. In dem Moment, in dem die Stimmung seiner Freunde nicht mehr viel schlechter sein könnte, entschließt sich Frederick dazu, ihnen von seiner Zeit auf der Wiese zu erzählen.

Zuerst zögern die anderen, doch dann drängen sie sich um ihn herum und lauschen den Geschichten von Schmetterlingen, Bienen und Grashüpfern. Es scheint ihnen sogar so, als ob sie den Duft der Blumen riechen und die Wärme der Sonnenstrahlen spüren könnten und während Frederick endlos seine Geschichten erzählt, fängt der Frühling an und lässt den Schnee schmelzen – ohne Frederick hätten viele Mäuse wohl die Hoffnung verloren und aufgegeben.


Auch wenn es nur eine Fabel ist, muss ich doch zugeben, dass mir Teile meiner Schulzeit sehr ähnlich vorkommen. Es galt immer, einen vernünftigen Kompromiss zwischen Lernen und sich Gehenlassen zu finden. Einige machten es gar ganz so wie Frederick, ließen es sich gut gehen und nahmen alles gelassen hin, auch wenn sie dafür schlechtere Noten hatten. Andere wiederum waren so sehr auf das Lernen konzentriert, dass sie die ganze Freude am Leben vergaßen.

Nun sitze ich hier – drei Tage vor meinen schriftlichen Prüfungen – und schreibe einen Artikel für die Abizeitung, obwohl ich, wenn ich es sehr optimistisch sehe, vielleicht gerade ¼ des notwendigen Stoffs gelernt habe. Nachdem ich nun 14 Jahre lang zur Schule gegangen bin, sollte ich mich eigentlich so fühlen, als sei ich perfekt auf das Abitur vorbereitet.

Ehrlich gesagt fühle ich mich aber eher so, als hätten mich diese 14 Jahre total fertig gemacht und als würden mir die Abiturprüfungen noch den letzten verbliebenen Rest an Geisteskraft rauben. Total ausgepowert (neudeutsch für: so fertig, dass noch nicht mal mehr eine Duracell helfen würde) muss ich mich dazu quälen, überhaupt eine Seite meines Geschichtsbuches aufzuschlagen –– vom Lernen ganz zu schweigen.

Stattdessen war ich in den vergangenen Tagen viel mit dem Fahrrad unterwegs, habe Bücher gelesen, die ich schon seit langer Zeit lesen wollte, oder habe mich einfach in die Sonne gelegt und vor mich hin geträumt. Mit jedem Tag, mit dem das Abitur näher kommt, fällt es mir schwerer, mich auf das Lernen zu konzentrieren. Könnt ihr jetzt verstehen, wieso mir Fredericks Situation so bekannt vorkommt?

Ein Großteil meiner Mitschüler würde mir das wahrscheinlich nie glauben. Wie kann ich mich nur gerade hetzt, so kurz vor Schluss und wo es doch noch so viel zählt, so unvernünftig verhalten, wo ich doch sonst meistens die besten Noten hatte?

Das frage ich mich auch. Ich weiß nur, dass in einer Woche eine große Last von meinen Schultern genommen sein wird – egal, wie es ausgeht – und dass ich mich darauf sehr freue. Ich glaube, das Jahr danach wird das bisher schönste meines Lebens werden – auch wenn ich die Schule bestimmt sehr vermissen werde; aber der Zwang, so viele Sachen lernen zu müssen, die mich überhaupt nicht interessieren, die ich nie im (Berufs-)Leben brauchen werde und am schlimmsten: die ich überhaupt nicht wissen WILL, ist für mich die schlimmste Folter, die ich mir vorstellen kann.

Ob Frederick recht hat und sich die anderen Mäuse geirrt haben, werde ich frühestens in einer Woche wissen.



Stephan Schleim, Abizeitung des Jahrgangs 2000 des Gymnasiums am Mosbacher Berg, Wiesbaden, S. 4